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Hintergrund

Kirche sein im Feiern und Verstehen

Hintergrund

Kirche sein im Feiern und Verstehen

Schrank mit Evangelien Ravenna 5Jh thumbLeseordnung

„So viel Zeit muss sein"

„So lange es die Zeit erlaubt" wurde um das Jahr 150 aus den Schriften des Alten und des Neuen Testaments vorgelesen. Und was geht heute?

Wie lange mögen die Lesungen gedauert haben damals um die Mitte des 2. Jahrhunderts bei Justin, damals als es noch keinen arbeitsfreien Sonntag gab? Und heute: Ist die Zeit nicht auch am Sonntag gut durchgetaktet?

Bei einer Sitzung der Arbeitsgruppe für die nachkonziliare Leseordnung schlug im Jahr 1966 jemand vor, die Lesungen abzuschaffen und durch kurze und historisch vertrauenswürdige Jesusworte zu ersetzen. So arbeite auch die Werbung. Und der moderne Mensch habe keine Zeit und vertrage keine langen Texte. Der Vorschlag kam nicht durch, im Gegenteil: Es gab mehr Lesestoff als vor dem II. Vatikanischen Konzil (1962-65). „So viel Zeit muss sein", denn es geht nicht um Produktwerbung, sondern um Gottes Wort an uns, hier und heute.

Mangel am "Tisch des Wortes"

Der sonntägliche Standard in der Zeit der Alten Kirche (etwa 4.-6. Jh.) waren drei Lesungen. Bald danach gab es in der römisch-katholischen Eucharistiefeier nur noch zwei Lesungen, das Evangelium und dazu eine weitere, fast immer neutestamentliche. Diese beiden Lesungen wurden jährlich wiederholt. Aber nicht nur das: an den Wochentagen wurden mit wenigen Ausnahmen die Lesungen des Sonntags wiederholt. Das Alte Testament fiel also fast ganz aus. Es herrschte Mangel am "Tisch des Wortes".

Die Konzilsväter gaben deshalb den Auftrag, die Schriftlesung reicher, mannigfaltiger und passender auszugestalten. Das Wort der Schrift sollte mehr als bisher zur geistlichen Nahrung werden. Das drückt das alte Bildwort "Tisch des Wortes" aus (siehe auch Ambo). Die Eucharistie als Nahrung auf dem Weg des Glaubens wird dem entsprechend vom "Tisch des Mahles", dem Altar, empfangen.

Um dem Wort Gottes in der Liturgie mehr Raum zu geben, sieht die Leseordnung für die Sonn- und Festtage nun drei Lesungen vor und zwar in jeweils drei unterschiedlichen Lesejahren (siehe Stichwort). Erstmalig haben jetzt alle Wochentage zwei vom Sonntag verschiedene Lesungen. Es herrscht wieder Fülle am "Tisch des Wortes" – und das nicht nur in der Eucharistiefeier, denn die Leseordnung des Messlektionars gilt auch für die Wort-Gottes-Feier am Sonntag.

An vielen Ort im deutschen Sprachgebiet (aber nicht in den Nachbarländern) wird von einer Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht: "Wenn für eine Meßfeier drei Lesungen angegeben sind, sollen wirklich die drei Lesungen genommen werden. Sollte jedoch eine Bischofskonferenz aus pastoralen Gründen gestattet haben, da oder dort nur zwei Lesungen vorzutragen, dann soll die Auswahl zwischen den beiden ersten Lesungen so getroffen werden, daß die beabsichtigte umfassendere Darbietung des Heilsmysteriums an die Gläubigen nicht vereitelt wird." (Pastorale Einführung in das Messlektionar Nr. 79)

Was sind pastorale Gründe? Darf die Zeit, die den Lesungen eingeräumt wird, nicht zu lang sein? Werden die biblischen Lesungen statt als Nahrung vom "Tisch des Wortes" als schwer verdaulich empfunden? Dem Weglassen einer Lesung steht die Erfahrung entgegen, dass die drei Lesungen an Orten, wo drei Lesungen eingeführt wurden, bald selbstverständlich werden.

Dennoch: kein Überfluss am "Tisch des Wortes"

Ohne Zweifel: Der Reichtum der biblischen Schriften ist heute weiter ausgebreitet als jemals zuvor. Dennoch gibt es Kritik und Verbesserungsvorschläge. Sie bezieht sich fast durchweg auf die Leseordnung für Sonn- und Festtage.

Die Kritik beruft sich unter anderem auf eine Zielsetzung des Konzils: „Innerhalb einer bestimmten Anzahl von Jahren sollen die wichtigsten Teile der heiligen Schrift dem Volk vorgetragen werden." (Liturgiekonstitution Nr. 51) Schon bei den Büchern des Neuen Testaments fehlen wichtige Stellen, aber noch weit stärker beim Alten Testament. Die bekannte Erzählung von Kain und Abel kommt in der Sonntagsleseordnung nicht vor, der Turmbau zu Babel nur als ein Auswahltext unter mehreren in der Vorabendmesse von Pfingsten.

Ein Problem besteht auch in der Art und Weise der Zuordnung von Altem und Neuem Testament. Vom Evangelium ausgehend wurde ein passender alttestamentlicher Text ausgewählt. Manchmal erscheint das Alte Testament dann als überholte Vorstufe des Neuen. Oder das alttestamentliche Gesetz steht gegen die befreiende Botschaft Jesu – und wird nicht erkannt in seinem Eigenwert als Weisung zum Leben.

Immer wieder erinnern Exegeten und Liturgiewissenschaftler daran, dass alttestamentliche Lesungen mehr schlecht als recht aus ihrem Zusammenhang heraus- und zusammengeschnitten sind. Das erschwert das Verstehen. Das Fehlen wichtiger Teile und die nicht immer gut gewählten Ausschnitte der Schriftlesung werden auch von Seiten der feministischen Theologie kritisiert: Manche starke Frau fehlt hier – und zwar nicht nur den Frauen.

Neue Menüpläne für den "Tisch des Wortes"?

Im deutschen Sprachgebiet liegen neben Vorschlägen zur Ergänzung zwei Modelle für neue Leseordnungen vor: Das Modell des früheren Mainzer Liturgiewissenschaftlers Hansjakob Becker beruht auf einem heilsgeschichtlichen Durchblick von Adam bis zu den chronologisch letzten alttestamentlichen Schriften in jedem Lesejahr. Das Evangelium wird dieser ersten Lesung zugeordnet.

Die Exegeten Georg Braulik und Norbert Lohfink sprechen sich für eine fortlaufende Lesung aus den ersten fünf Büchern Mose aus. Die zweite Lesung könnte in einer Lesereihe aus den Propheten und den Weisheitsschriften der ersten Lesung zugeordnet werden und alternativ in einer zweiten Reihe als Brieflesung dem Evangelium zugeordnet werden. Die Leseordnung hätte dann zwei Pole oder Höhepunkte: die Tora und das Evangelium.

Beide Modelle müssten weiter ausreifen. Im Augenblick steht keine Revision der römischen Leseordnung auf der Agenda. Die Rezeption der Grundprinzipien der römischen Leseordnung in vielen englischsprachigen Kirchen der Ökumene (z.B. der Church of England) zeigt grundsätzlich die Ausgewogenheit und Plausibilität dieser Leseordnung. Dass eine Überarbeitung möglich ist, zeigt das dort verwendete "Revised Common Lectionary" (siehe Randspalte). Alle Wünsche werden auch dort nicht erfüllt – die Bibel bleibt immer reicher als eine Leseordnung, die notwendigerweise auswählen muss.

Gunda Brüske (aktualisiert 29.11.2018)

 

Stichwort

neue katholische Leseordnung seit 1969, für Sonntage im Jahreskreis 3 Lesejahre:

  • A Matthäusevangelium
  • B Markusevangelium
  • C Lukasevangelium
  • Johannesevangelium: Festzeiten und Lesejahr B

jeden Sonntag 3 Lesungen und einen Antwortpsalm:

  • 1. Lesung: Altes Testament, in der Osterzeit: Apostelgeschichte
  • Antwortpsalm
  • 2. Lesung: neutestamentliche Briefe, Johannesoffenbarung
  • 3. Evangelium

Prinzipien der Leseordnung:

  • 1. Lesung passend zum Evangelium
  • 2. Lesung und Evangelium in der Reihenfolge des biblischen Buches (= Bahnlesung)
  • für Feste/Festzeiten passend zum Anlass

für Wochentage:

  • Evangelium einjährig
  • 1. Lesung zweijährig

Welche Lesung vorgetragen wird, steht für jeden Tag des Kalenders im:

Praxis-Tipp

Eine Fülle von Tipps finden Sie im Bereich Praxis.

Wider-Worte

Ist man wirklich in der nachkonziliaren Liturgie zu Hause, "wenn die Dreizahl der Lesungen praktisch abgelehnt wird und deshalb in zahlreichen Pfarren einer der wichtigsten Gewinne der Reform, die wiedereingeführte alttestamentliche Lesung, aus mir völlig unverständlichen sogenannten 'pastoralen Gründen' de facto nicht vorkommt?

Fragt man nach dem Warum ..., bekommt man ... häufig zu hören: Drei Lesungen seien für den modernen Menschen zuviel. Das stimmt natürlich nicht, denn auch in anderen Ländern der Welt gibt es moderne Menschen, und dort hat man dieses Problem nicht. Was der wahre Grund ist, weiss ich nicht."

Norbert Lohfink

Facts

"Bei den heiligen Feiern soll die Schriftlesung reicher, mannigfaltiger und passender ausgestaltet sein."

Liturgiekonstitution Nr. 35,1

Ökumenische Verbundenheit

Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung der lateinischen Leseordnung (1969) übernahmen einige nordamerikanische evangelische Kirchen die römische Leseordnung. Weitere Kirchen folgten in den 70er Jahren. Dabei nahmen sie mehrfach kleinere Anpassungen vor. Nach mehreren Jahren der praktischen Erfahrung bildete sich eine Arbeitsgruppe aus Vertretern diverser evangelischer Kirchen, die ein vereinheitlichtes und verbessertes Lektionar erstellte (das sogenannte „Common Lectionary" von 1983). Die stärkste Veränderung gegenüber der römischen Leseordnung besteht bei den alttestamentlichen Lesungen: Weil sie zu wenig repräsentativ für das Alte Testament waren, wurden nun neue, nicht auf das Evangelium abgestimmte Lesungen ausgewählt. Das bedeutet für das Lesejahr A eine Auswahl aus den ersten fünf Büchern Mose und Rut, für Lesejahr B Davidtradition und Weisheit, für Lesejahr C Elija- und Elischa-Erzählungen sowie Prophetenlesungen.

An der Erprobung dieses Lektionars für die Dauer von zweimal drei Lesejahren beteiligten sich nun auch protestantische und anglikanische Kirchen Neuseelands, Australiens und Südamerikas. Die Folge war eine grosse Steigerung der interkonfessionellen Zusammenarbeit auf institutioneller Ebene, bei Predigenden und auch in Bibelkreisen. Die Rückmeldungen der Erprobungsphase führten zum „Revised Common Lectionary" (1992), das bis heute in zahlreichen Kirchen in Gebrauch ist.

Links

Lesungen für jeden Tag mit Erklärungen und Bildern

Die Lesungen im Schott