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Hintergrund

Kirche sein im Feiern und Verstehen

Hintergrund

Kirche sein im Feiern und Verstehen

camino de santiagopilgern

"Halt – ich steige aus und geh zu Fuss weiter"

Das scheinen sich immer mehr Menschen zu sagen. Sie packen ihre sieben Sachen und machen sich auf.

Wanderschaft, Bewegung, Pilgern – der Drang zur Fortbewegung gehört zu unserem Wesen als Mensch. Im wörtlichen Sinne, denn unsre Ahnen und Urahnen verbrachten die meiste Zeit in Bewegung, sammelnd und jagend. Und im übertragenen Sinn: Fortlaufend bewegen wir uns in Richtung unseres ewigen Ziels. Die Pilgerreise wird zum Sinnbild des irdischen Lebens. Und schliesslich: Sich für das Seelenheil aufzumachen zu einem heiligen Ort, diese Form der Wanderschaft ist allen Religionen und Kulturen eigen.

Diesem Wesen des Menschen, seiner Grundverfassung als "Auf-dem-Weg-Seiend", tragen auch unsere Gottesdienste Rechnung. Sitzen, stehen, knien, Verbeugungen und Kniebeugen: Unsere Körperhaltung im Gottesdienst ist nicht statisch, verschiedenste Bewegungen gehören zu unseren liturgischen Ausdrucksformen. In den meisten Gottesdiensten sind die Bewegungen durch den Raum vor allem den liturgischen Rollenträgern vorbehalten: Ein- und Auszug in die Kirche, das Schreiten der Lektoren zum Ambo, die Gabenprozession. Stärker, und vor allem aber alle Mitfeiernden einbeziehend, kommt das Bewegungselement in den Prozessionen zur Geltung, die sich zu verschiedenen Festen entwickelt haben. Am stärksten findet der Mensch als "homo viator" – als "Wege-Geher" – seinen Ausdruck in den grossen oder kleinen Wallfahrten.

Wohin pilgern Christen – und warum?

Obwohl sich die frühen Christen anfangs in Abgrenzung zum Judentum von der jüdischen Wallfahrtspraxis distanzierten, machten auch sie sich bald auf den Weg: zu den Erinnerungsstätten im Heiligen Land, zu den Orten des Lebens und Wirkens Jesu. Das in der Geschichte oft unerreichbare Jerusalem bildete das Hauptpilgerziel, andere grosse Ziele wie Rom und Santiago de Compostela sind später ebenso hinzugekommen wie Wallfahrten zu Orten, die in besonderer Weise Maria ehren oder mit verschiedenen Heiligen in Verbindung standen.

Auch wenn das Wallfahrten selber nicht als Liturgie betrachtet wird, hat das Wallfahrtswesen die Liturgie immer wieder geprägt. Heimkehrende Pilger brachten fremde Festtraditionen und -bräuche mit. Wo Heiligtümer unerreichbar waren, wurden sie zuhause nachgebaut: Die Tradition des "Sacro Monte" etwa des Karl Borromäus brachte das Heilige Land zum Volk, wo das Volk nicht ins Heilige Land ziehen konnte. Auch spielte die gottesdienstliche Rahmung einer Pilgerreise eine grosse Rolle. Besondere Feiern und spezielle Pilgersegen standen am Beginn der Reise, am Ziel und an ihrem Abschluss. Das Pilgern stand im Mittelalter hoch im Kurs, bevor es fast in Vergessenheit geriet. Erst in den letzten dreissig Jahren erlebt die Pilgerschaft einen wahren Aufschwung – als Gegenbewegung.

Denn heute sind wir in einem unguten Sinne sesshaft geworden. Den grössten Teil unserer Zeit verbringen wir sitzend, und das, obwohl die Mobilität noch nie grösser war. Gleichzeitig beschleunigt sich unser Lebenstempo, nimmt die Flut von Bildern und Reizen beständig zu. "Halt – ich steige aus und geh zu Fuss weiter", scheinen sich immer mehr Menschen zu sagen. Sie packen ihre sieben Sachen und machen sich auf. Sie tauschen für Wochen oder Monate das komfortable Leben im geschützten Raum gegen ein einfaches Leben im Rhythmus der eigenen Schrittlänge.

Erfahrung des Fremdseins

Was passiert, wenn wir uns so auf den Weg machen? Anders als Abraham, dem Gott sagte "Zieh weg aus deinem Land" (Genesis 12,1) ziehen wir heute nicht ins Ungewisse. Wir pilgern für eine begrenzte Zeit zu einem bekannten Ziel, der Weg ist gut beschildert und führt uns durch die Zivilisation. Doch mit dem Pilgern stellen wir unseren Körper und unseren Geist auf eine harte Probe. Blasen, Muskelkater und andere Widrigkeiten machen uns entlang des Wegs zu schaffen. Täglich müssen wir uns aufs Neue orientieren und uns um Unterkunft, Nahrung und Wasser bemühen. Und vor allem: Überall, wo wir ankommen, sind wir fremd. Der Pilger, lateinisch: Peregrinus, ist ein Fremder. Beim Pilgern müssen wir uns dieser Erfahrung des Fremdseins stellen und uns in den alltäglichen Schwierigkeiten bewähren, kurz: uns mit der Welt und dem Leben auseinandersetzen.

pilgerdenkmal am alto del perdon

Wer sich unvoreingenommen darauf einlässt, erfährt die Welt beim Pilgern in anderen Dimensionen. Mit den Füssen kommt der Geist in Bewegung. Im Tempo der eigenen Schritte entdeckt der Wanderer die Natur und das Erbe seiner Vorfahren. Indem er ihren Weg geht, wird er Teil des Wegs, wie unzählige vor ihm und nach ihm. Es ist egal, woher jemand kommt und wohin er nachher wieder zurückkehren wird: Auf dem Weg sind alle gleich, die Grundsehnsucht des Menschen nach einer klassenlosen Gesellschaft wird für einen Moment greifbar. Und noch etwas anderes wird dem katholischen Pilger deutlich: die universale Dimension der Kirche und ihrer Liturgie. Ob auf Spanisch, Italienisch, Arabisch oder auf Latein, er ist Teil eines Ganzen, dessen gottesdienstliche Feiern ihm auch in der Fremde ein Stück vertraute Heimat sind.

Leben in allen Dimensionen

Vielleicht wird dem Pilger der wiederkehrende Rhythmus der Wandertage – aufstehen, packen, loslaufen, ankommen – zur belastenden Routine. Gleichzeitig bleibt ihm viel Zeit für Fragen, für Selbsterfahrung und Selbstsorge. Gelingt es, das Wiederkehrende zur entlastenden Meditation werden zu lassen, entsteht Platz für etwas Neues, Platz, um mit den Schritten auch die Gedanken schweifen zu lassen, Platz für Sinnsuche. Und am Ende steht nicht ein bestimmter Ort als Ziel, sondern die Lust auf das Leben in all seinen Dimensionen!

Andrea Krogmann

 

Praxis-Tipp

Pilgern in Europa: Übersichtskarte der Pilgerziele und -wege in Europa, ISBN-13: 978-3981030174.

Dem Pilger den richtigen Weg weisen will ein Kartenwerk zu den Wallfahrtsorten der Christenheit. Zwei Karten – eine für Deutschland und eine für Europa – verzeichnen fast alle Wege und Wallfahrtsorte des Christentums, darunter auch weniger bekannte Wege wie jener zum Schrein des heiligen Olav in Trondheim. Die Karten basieren auf Pilgerberichten und Reisehandbüchern.

Wider-Worte

"Verschiedene Beobachtungen haben gezeigt, dass die von unterzeichneter Stelle, auf einen Beschluss der Regierung unterm 1. Oktober 1827, erlassene Verordnung über den Eintritt fremder Pilger in den Kanton St. Gallen, schon seit einiger Zeit in gänzliche Vergessenheit gekommen. Es wird daher dieselbe durch erneuerte Mittheilung an alle Behörden in Erinnerung gebracht und sämmtlichen Polizei-Beamten des Kantons, besonders aber allen Gränzposten, deren strenge Vollziehung anbefohlen.

'Mehrfache Erfahrung, dass häufig unbeurkundete und der öffentlichen Sicherheit gefährliche Personen sich an Wallfahrter anschliessen und unter dem Scheine einer Pilgerreise sich in den Kanton St- Gallen einschleichen, hat die hochlöbliche Regierung veranlasst, allen und jeden Pilgern auswärtiger Staaten den Eintritt in den Kanton versagen zu lassen, welche sich nicht mit einem dem Zweck ihrer Reise bezeichnenden obrigkeitlichen Ausweise als unverdächtig legitimieren können. In Vollziehung dieses hohen Beschlusses werden daher sämmtliche Polizei-Beamtete des Kantons St. Gallen strengstens angewiesen, in Zukunft alle unbeurkundeten Wallfahrter über die Gränze zurück zuweisen, und keinem Pilger den Eintritt in den Kanton, oder das Weiterreisen in selben, zu gestatten, wenn er sich nicht auf oben angegebene Art genugsam auszuweisen vermag.'"

Dokument der "Justiz- und Polizey-Kommission" St. Gallen vom 4. Juni 1832

Brauchtum

"Seit den frühesten Zeiten wollen Pilger 'Erinnerungen' an das besuchte Heiligtum mitbringen. Man achte darauf, dass die Gegenstände, Bilder und Bücher dem authentischen Geist des heiligen Ortes entsprechen."

Direktorium für die Volksfrömmigkeit (2001) Nr. 287

Geistlicher Impuls

Segensgebet für Pilger

Der Name des Herrn sei gepriesen von nun an bis in Ewigkeit.

O Gott, du hast deinen Diener Abraham auf all seinen Wegen behütet. Du hast die Söhne und Töchter Israels auf trockenem Pfad durch das Meer geführt. Ein Stern hat die Weisen aus dem Morgenland zu Christus, dem Herrn der Welt, geleitet.

Wir bitten dich, Vater im Himmel:
Geleite und behüte alle Pilger, die auf dem Weg sind zu den Heiligtümern der Christenheit
– zur Heimat deines Sohnes
– zum Heiligtum der Gottesmutter, des Heiligen (N. N.). Mehre durch ihre Pilgerfahrt den Glauben an deine gütige Vorsehung; stärke ihre Hoffnung auf Heil und Leben und erneuere ihre Liebe zu dir, dem dreifaltigen Gott und zu all deinen Geschöpfen.

Behüte die Pilger vor aller Gefahr. Mache sie reich unterwegs an Freude und Bruderliebe und lass sie wohlbehalten wieder die irdische Heimat erlangen. Gewähre ihnen, dass sie sicher das Ziel aller Pilgerschaft in der ewigen Heimat erreichen, wohin uns Jesus Christus vorausgegangen ist, um bei dir, unserem Vater im Himmel, eine endgültige Wohnung zu bereiten. Um all dieses bitten wir durch denselben Christus, unseren Herrn. Amen.

Franz Xaver Schwarzenböck (nach dem Pilgersegen des Benediktionale)

Facts

"Wie das Heiligtum Stätte des Gebets ist, so ist die Wallfahrt Weg des Gebets. Auf jeder ihrer Etappen soll das Gebet die Wallfahrt beseelen und das Wort Gottes ihr Licht und Führung, Nahrung und Stütze sein."

Direktorium für die Volksfrömmigkeit (2001), Nr. 287

Links
pilger nach santiago