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Hintergrund

Kirche sein im Feiern und Verstehen

Hintergrund

Kirche sein im Feiern und Verstehen

Psalm 73 thumbHerr, öffne meine Lippen

Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.

Kein Fehlstart mit Gott. Obwohl das Beten am Morgen nicht immer einfach ist. Die Liturgie legt uns die ersten Worte in den Mund. Worte aus Bildern und Kraft.

Herr, öffne meine Lippen. Damit mein Mund dein Lob verkünde. – Jeden Tag beginnt das erste Gebet der Tagzeitenliturgie mit diesen Worten. Vielleicht sogar dreimal gesprochen. Mit einem kleinen Kreuzzeichen über die Lippen.

Wie eine Sache anfängt, wie man selber etwas beginnt, ist nicht gleichgültig. Jede und jeder hat das mit Sicherheit schon oft erlebt. Auch einen Fehlstart in einen neuen Tag. Der Beginn des täglichen liturgischen Gebets ist kein Fehlstart. – Herr, öffne meine Lippen. Damit mein Mund dein Lob verkünde.

Überschriften richtig lesen

Die Worte sind stark. Sie sind alt. Psalm 51,17. Im Psalter werden sie David zugeschrieben. Über dem Psalm steht die Überschrift: „Für den Chormeister. Ein Psalm Davids, als der Prophet Natan zu ihm kam, nachdem sich David mit Batseba vergangen hatte." Es ist einer der Busspsalmen, herkömmlich mit dem ersten Wort nach der Überschrift Miserere genannt. Überschriften setzt man oft erst über einen Text, wenn er geschrieben ist.

Die Überschrift von Psalm 51 ist dem Psalm auch erst später zugewachsen – nicht ohne Grund. Im Psalm heisst es in V. 6: „Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir missfällt." Das klingt zusammen mit einer Stelle aus dem zweiten Buch Samuel. Als Natan zu David kam, sprach David: „Ich habe gegen den Herrn gesündigt." Natan antwortete ihm: „Der Herr hat dir deine Sünde vergeben; du wirst nicht sterben." (2 Samuel 12,13). Bevor das grosse Sündenbekenntnis dieses Psalms anhebt, steht da also David als „Identifikations- und Hoffnungsfigur": „An David soll Israel lernen, dass der, der steht, fallen kann, aber auch dass, wer gefallen ist, von der Barmherzigkeit Gottes wieder aufgerichtet werden kann, mehr noch: ‚neu geschaffen werden kann' (vgl. Psalm 51,12)." (Erich Zenger)

Neuschöpfung des Herzens

Das ist ein ganz besonderer Vers: „Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, und gibt mir einen neuen, beständigen Geist." (Psalm 51,12) Für Gottes Schöpfertätigkeit hat das Hebräische ein eigenes Wort: bara. Wir haben es aus dem ersten Schöpfungsbericht im Ohr. Hier steht es auch. Das neue Herz, das „David" zuversichtlich erbittet, kommt aus den Urgründen von Gottes Schöpfermacht. „Angesichts der den Menschen vom ersten Augenblick seiner Existenz bedrohenden tödlichen Krankheit ‚Sünde' bittet er darum, dass Gott ihn von der Mitte seiner Existenz her neu schaffen möge." (Erich Zenger) Erschaffe mir ein reines Herz – das ist Zuversicht in Gottes Neuschöpfung. Dann werden wir unsere Lippen öffnen und Gottes Lob verkünden.

Drei Fragezeichen hinter der Eröffnungsformel

Werden wir? Können wir das aus eigener Kraft? So am Morgen aus uns selbst heraus unseren ganzen Sinn auf Gott richten und ihn loben? Die Glaubenden, die in Vers 17 des Psalms zu Wort kommen, haben anderes erfahren. Herr, öffne meine Lippen. Mach du das. Hilf mir. Damit mein Mund dein Lob verkünde. Ich kann das nicht aus eigener Kraft. Ich brauche dafür seine Hilfe.

Das ist auch eine Erfahrung, die Paulus im Römerbrief sagen lässt: „Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen ..." (Römer 8,26b). Er hilft unserer Schwachheit auf (Römer 8,26a). Er führt uns im Gebet. Das Seufzen korrespondiert dem Seufzen der Schöpfung im selben Abschnitt von Römer 8. Die Christen haben den Geist erhalten, der sie zu neuer Schöpfung werden lässt. Auch die Schöpfung wird in diese Hoffnungsperspektive hineingestellt. Gottes Geist, er selbst, hilft uns in unserem Beten, er öffnet unsere Lippen.

Biblische Erfahrung gleich heutige Erfahrung?

Ist das nun die Erfahrung von Menschen unserer Zeit? Dass wir nicht können, obwohl wir gerne möchten? Wenn wir dem Dichter Huub Oosterhuis glauben, geht es uns auch nicht anders:

„Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr;
fremd wie dein Name sind mir deine Wege. ...
Ich möchte glauben, komm mir doch entgegen.

Von Zweifeln ist mein Leben übermannt,
mein Unvermögen hält mich ganz gefangen. ...

Sprich du das Wort, das tröstet und befreit
und das mich führt in deinen großen Frieden. ...

Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst.
Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete."

Sprich du, sei du – Gott wird aufgefordert zu handeln. Im letzten Vers steht nun aber der Indikativ, kein Imperativ: Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete. Mein Atem, das bin ich. Mein Gebets-Atem, das ist Gottes Geist, die Ruach. Beides ist nicht zu trennen.

Die alten Worte in meinen Tagängsten

Herr, öffne meine Lippen. Damit mein Mund dein Lob verkünde. – Bevor wir fallen, und das kann ja jeden Tag passieren, auf die eine oder andere Weise, stellen wir uns mit diesem Wort auf die Seite Davids und auf die von Paulus. Wie diese und wie Oosterhuis, der Theologe und Dichter unserer Zeit, vertrauen wir, dass wir wieder aufgerichtet, ja neu geschaffen werden können. Am Anfang des Tages treten wir ein in die alte Hoffnungsgeschichte. Mit diesem einen Vers am Morgen wird der ganze grosse Zusammenhang der Geschichte Gottes mit den Menschen aufgerufen. Und wir sind jeden Morgen in diese Geschichte hineingestellt, wie Willi Bruners es aus seiner Erfahrung sagt:

Nach dem morgendlichen
Gang über die
Psalmbrücke

drehe ich mich nicht
mehr um die eigene
Achse

ich atme die alten
Heilworte in meine
Tagängste

und bin
guter Hoffnung

Gunda Brüske

 

Geistlicher Impuls

"Die eröffnenden Formeln haben eine Struktur, die schon im voraus zum Wortsinn selbst etwas ansagt. Diese Formeln sind nämlich ... nachgesprochene Rede. ...

Nicht, als sei das eine Besonderheit der liturgischen Formeln. Es ist eine Eigenart der Sprache des Menschen selbst, der nur Vorgesprochenes nachsprechend selbst zum Sprechen findet. Wer nicht nachsprechen will, lernt nicht nur niemals mitsprechen, er bleibt stumm und findet nie zum eigenen Wort.

Der Dialog der Eröffnungsformeln führt den Mitbetenden in den Ursprung der Sprachfähigkeit selbst zurück und übt ihn darin neu ein. Umso wichtiger dann, dass diese Formeln bedacht geübt werden und in der Aussagen das Wichtige zu Wort bringen."

Angelus A. Häussling OSB (1991)

Facts

"Das Invitatorium steht immer am Beginn des täglichen Stundengebets, entweder vor den Laudes oder vor der Lesehore, je nachdem, mit welcher der beiden Horen man den Tag beginnt."

Allgemeine Einführung ins Stundenbuch Nr. 35