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Musik

Kirche sein in symphonischer Gemeinschaft

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Kirche sein in symphonischer Gemeinschaft

Der Schrei Lithographie thumbLiedimpuls 4 – Aus tiefer Not schrei ich zu dir

Aus tiefer Not schrei ich zu dir,
Herr Gott, erhör mein Rufen.
Dein gnädig Ohr neig her zu mir
und meiner Bitt es öffne;
denn so du willst das sehen an,
was Sünd und Unrecht ist getan,
wer kann, Herr, vor dir bleiben?"

Martin Luther (1483-1546)

Katholisches Gesangbuch 384

Gott kennt kein Tabu. Mit ihm können wir über alles reden. Wir dürfen ihm klagen, mit ihm schimpfen sogar. Manche Psalmen tun dies. In Psalm 130 schreit einer zu Gott, weil er in Not ist. Er versinkt aber nicht in Selbstmitleid, er weiss, dass er Schuld trägt an seiner misslichen Lage. Doch er gibt nicht auf. Er hofft, gehört zu werden.

Psalm 130 hat Musiker aller Generationen inspiriert: von Bach über Mendelssohn bis Leonard Bernstein und Arvo Pärt. Im Jahr 1524 machte Martin Luther aus dem Psalm einen Gemeindegesang und begründete damit die Tradition des strophischen Psalmliedes. In der Folge hat das Lied verschiedene konfessionell bedingte Anpassungen erhalten, heute steht es in seiner ursprünglichen Form in den Gesangbüchern der drei Schweizer Landeskirchen. Text und Melodie verbinden sich darin zu einem stimmigen Ganzen. Schon in der Tonfolge der ersten Verszeile sind die Grundmotive des Psalms präsent: die tiefe Not (Quintsprung nach unten auf den Grundton und wieder zurück), der Aufschrei („Schmerzensintervall“ der kleinen Sekunde), die Hoffnungsperspektive (drei Melodieschritte nach oben am Zeilenende).

Auch wenn wir persönlich vielleicht keine Not leiden, können wir das Lied im Gottesdienst singen. Es wird zum Ausdruck von Solidarität mit den Menschen, an denen Schuldgefühle nagen und die sich in einer hoffnungslosen Situation wähnen. Mit dem Lied geben wir jenen eine Stimme, die aus Verzweiflung verstummen, rufen jene in Erinnerung, die von der Welt vergessen sind. Dabei halten wir uns nicht heraus: „Vor dir niemand sich rühmen kann.“ (2. Str.) Wir anerkennen, dass wir selber in die Zusammenhänge von Unglück und Schuld verstrickt sind. Wir stellen uns der Verantwortung, zu der jene gerufen sind, die in einer besseren Lage sind und die Handlungsspielraum haben, um Not zu lindern. Geleitet wird unser Singen und Handeln von der Hoffnung auf einen barmherzigen Gott, der das geknickte Rohr nicht zerbricht (vgl. Mt 12,20). „Ob bei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist viel mehr Gnade.“ (5. Str.)

Das Lied zum Hören auf Youtube

J.S. Bach, Aus tiefer Not schrei ich zu dir (Kantate BWV 38) auf Youtube


Josef Willa