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Musik

Kirche sein in symphonischer Gemeinschaft

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Kirche sein in symphonischer Gemeinschaft

Sonne thumbLiedimpuls 11 – Nichts ist selbstverständlich

„Dass unsre Sinnen wir noch brauchen können
und Händ und Füsse, Zung und Lippen regen,
das haben wir zu danken seinem Segen.
Lobet den Herren."

Paul Gerhardt (1607-1676)

Katholisches Gesangbuch 674

Man muss sich ein wenig Zeit nehmen, um sich die Frage des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) einmal auf der Zunge zergehen zu lassen: „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ Sie ist seitdem von vielen anderen Philosophinnen und Philosophen auf ganz unterschiedliche Art und Weise gestellt worden. Hinter allen diesen Fragen aber schimmert eine Haltung, an die wir uns manchmal bewusst erinnern müssen: das Wundern über das Sein, das Wundern darüber, dass wir sind, dass die Welt um uns herum ist, dass die Menschen, mit denen wir leben, sind. Ja, warum ist das alles, und nicht vielmehr nichts?
An der Frage gefällt mir, dass sie nach scheinbar Selbstverständlichem fragt. Es geht nicht um Aussergewöhnliches: Warum geschieht dieses unglaubliche Wunder? Warum dieses unendliche Glück? Sondern: warum überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts? Offenbar ist dieses scheinbar Selbstverständliche doch nicht selbstverständlich.

Um die Antworten der grossen Denkerinnen und Denker auf diese Frage hier wiederzugeben, würde der Platz nicht reichen. Deshalb hier nur eine bescheidene Antwort eines evangelischen Pfarrers und Zeitgenossen Leibniz, Paul Gerhardt (1607 – 1676). Für ihn war wenig selbstverständlich. Eine grosse Zeit seines Lebens verbrachte er im Schatten des Dreissigjährigen Krieges. Vier seiner fünf Kinder überlebten ihn nicht. Er wurde aufgerieben in den konfessionellen Spannungen zwischen Lutheranern und Reformierten in Berlin und verlor dort sogar sein Pfarramt.

In dieser ganzen Zeit aber schrieb er Lieder, von denen viele noch heute in den verschiedenen Kirchengesangbüchern zu finden sind. Eines davon ist ein wunderschönes Morgenlied „Lobet den Herren, alle die ihn ehren“. Es lohnt sich, dieses Lied einmal im KG unter der Nummer 674 oder im Internt zu suchen. Denn dieses Lied kann wie eine Antwort auf die Frage des Philosophen Leibniz gelesen oder besser noch gesungen werden. Denn der Morgen, der Neuanfang nach der dunklen Nacht, jetzt im Frühsommer mit dem Vogelgezwitscher und den warmen Sonnenstrahlen, der ist einerseits selbstverständlich und andererseits doch auch ein Wunder.

Besonders die oben zitierte dritte Strophe hat es mir angetan.

Vergegenwärtigen Sie sich die Situation am frühen Morgen nach dem Wecken. Sie sind vielleicht noch müde, oder Sie springen voll Freude über das, was Sie an diesem Tag erwartet, aus dem Bett. Aber machen Sie sich auch bewusst, dass dieser Tagesanfang mit Ihnen als Hauptperson nicht selbstverständlich ist? Stellen Sie sich die Frage, warum Sie sich jetzt überhaupt freuen können? Denken können? Sehen, greifen, laufen, sprechen können? Warum nicht einfach nichts ist an diesem Morgen? Für Paul Gerhardt ist die Antwort klar. Sie ist für mich sehr plausibel und vielleicht auch für Sie: „Das haben wir zu danken seinem Segen.“ Der Segen Gottes, sein Wirken, ist nicht unbedingt im Grossen und Aussergewöhnlichen zu suchen, auch nicht unbedingt im Verschontsein von Unglück und Leid, sondern zuerst einmal darin, dass wir überhaupt sind und denken und uns regen können. Und wenn das auch für Sie einsichtig ist, dann können auch Sie Ihren Tag mit den Worten beginnen, mit denen Paul Gerhardt jede der Strophen seines Morgenlieds beendet: „Lobet den Herren!“

Martin Conrad

Hier können Sie die erste Strophe des Lieds hören.